Das Alter
von Elisabeth Grupp
Vorüber die Flut. Noch braust es fern.
Wild Wasser und oben Stern an Stern.
Wer sah es wohl, O selig Land,
Wie dich die Welle überwand.
Noch braust es fern.
Der Nachtwind bringt Erinnerung
und eine Welle verlief im Sand.
Rainer Maria Rilke
Das Alter – allgemein
Noch braust es fern, ein leises Grollen,
aber unüberhörbar naht die Flut.
Die Vorstellung auf das Alter sprengt jede Vorstellungskraft. In jungen Jahren
ist ein Altersunterschied unüberbrückbar. Kommt man jedoch an dieses Ziel,
merkt man gefühlsmäßig keine Differenz. Im Allgemeinen hassen wir das
Altwerden, und wir hassen die Alten dafür, dass sie es uns vor Augen führen.
Wir gewinnen diesen Eindruck, weil wir in erster Linie auf Äußerlichkeiten
achten. Denn die Schönheit der Seele ist schwerer zu sehen als die des Körpers.
Aber wir sollten erkennen, dass das Alter nicht zufällig ist, sondern von der
Evolution und unserer Seele gewollt ist.
Alter - Problem oder Chance
Das Alter wird als chronische Krankheit gesehen, die fast das ganze Leben behandelt werden muss. Altsein ist negativ besetzt. Dies reicht von faltiger Haut bis zu sozialer Ausgrenzung. Diese Problembeladenheit bietet eine Gelegenheit, um neue Perspektiven zu entwickeln. Eine Perspektive ist die längere Lebenserwartung sowie die finanzielle Absicherung. Die Zeit des Lebens hat sich von einer unsicheren zu einer sicheren Lebenszeit entwickelt. Gesundheitliche Vorsorge und Hygiene, ausgewogene Ernährung, Abwesenheit von Krieg und Hunger machen unser Leben zu einer verlässlichen Größe. Konfuzius beurteilt das Älterwerden nicht als absteigende, sondern als aufsteigende Bewegung: „Mit 15 Jahren bemühte ich mich um das Studium der Weisheit; mit 30 gewann ich Sicherheit darin; mit 40 hatte ich keine Zweifel mehr; mit 60 konnte mich nichts auf der Welt mehr erschüttern und mit 70 vermochte ich den Wünschen meines Herzens zu folgen“.
Bildung und lebenslanges Lernen
Bildung ist nicht nur für den
beruflichen Erfolg von Bedeutung, sondern auch für die Gestaltung des Lebens im
Alter. Den Beruf fürs Leben gibt es nicht mehr. Im Laufe eines Lebens ist eine
berufliche Umorientierung mit Weiterbildung die Schlüsselqualifikation und
Grundlage für Persönlichkeit und Ansehen. Die heutigen Alten haben insgesamt
eine wesentlich geringere Schulbildung als die jüngeren Generationen. Die Alten
der Zukunft werden über ein höheres Bildungsniveau verfügen, als irgendeine
Generation vor ihnen. Wenn Menschen also zeitlebens gelernt haben und das
Gelernte praktisch umsetzen, wird es ihnen leichter fallen, sich auf neue
Situationen einzustellen sowie Fähigkeiten und Wissen altersgemäß zu nutzen.
Alter und Bildung stehen in einem Verhältnis zueinander wie Leben und Atmen. Lebenslanges
Lernen ist ein Lebens- und Alterselixier, das durch nichts zu ersetzen ist.
Die Krönung des Alters
Es gibt viele Lebensalter und ebenso viele Versuche, sie in einer überschaubaren und angemessenen Struktur zu fassen. Keines ist allgemeingültig, denn Leben und Alter befinden sich in ständiger Veränderung und entziehen sich in ihrer Vielfalt jeder einfachen Beschreibung. Insofern stehen Leben und Alter in einem Verhältnis zueinander wie Meer und Fluss, denn das Leben fließt unweigerlich in das unergründliche Meer des Alters hinein. Ob wir wollen oder nicht.
Die Versöhnung
Wenn wir über uns
hinauswachsen wollen, müssen wir uns mit uns selbst versöhnen. Wir müssen uns
annehmen so, wie wir sind und nicht wie wir gerne wären. Das Alter ist keine
Verlängerung des Lebens mit anderen Mitteln, sondern die Adelung unserer
Existenz. Das Privileg eines Rückblicks ist Frucht und Saat zu-gleich. Wenn es
uns gelingt, Gewinn und Verlust nicht einseitig zu betrachten und Gleichgewicht
dazwischen herzustellen, kann die Einübung und Aneignung einer neuen Identität
unsere Zukunft überstrahlen. Eine der tragenden Funktionen des Alters ist die
Rückkehr des Menschen zu sich selbst und die Heimkehr der Älteren in die Arme
der Gemeinschaft. Erst in der Akzeptanz dieser Annahme erlangen wir inneren und
äußeren Frieden. Ein hohes Alter zu erreichen und dabei seinen Verstand, seinen
Humor, seinen Witz und seinen Charme zu behalten, ist vielleicht das Schönste,
was das Leben einem schenken kann.
Dieser Text bezieht sich auf das Buch Olymp des Lebens von Thomas
Druyen, das nur noch gebraucht zu beziehen ist.
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